Die Schwestern Grimm – Ramona Krönke

Es war einmal ein Mädchen, das hatte einen blauen Cordanzug. Von dem zog es die Jacke an, als die Mutter es einmal so sehr schimpfte, dass es nicht weiter zuhören wollte, knöpfte sie bis zum obersten Knopf zu, holte das unterm Schreibtisch versteckte Brotlaib hervor, stecke es in seinen Campingbeutel, warf ihn sich über den Rücken und lief davon. Erst die sechs Treppen hinab, dann zur Tür hinaus und schließlich den Berg herunter. Es lief bis zur alten Linde. Die war so dick, dass es fünf Kinder brauchte, um ihren Stamm zu umfassen. Und dort in jenem Stamm gab es, etwa auf Kopfhöhe des Mädchens, ein großes Loch. Früher hatte hier einmal eine Eule genistet und der dicken Linde den Beinamen „Eulenbaum“ gebracht. Schon seit geraumer Zeit war der Vogel verschwunden, der Name aber ist geblieben.

Das ist ein für die meisten LeserInnen eigentlich überflüssiges Detail der Geschichte, ich entschuldige mich hiermit in aller Form, dass ich es trotzdem erwähne. Dem liegt meiner Hoffnung zu Grunde, dass möglicherweise Einheimische der durchwanderten Region (diese Geschichte hat sich dort so zugetragen) den Eulenbaum als mythenumrankten Ort aus ihren Kindheitstagen wiedererkennen könnten. Sollten Sie, geneigte LeserIn, nicht zu dieser Gruppe gehören, bitte ich Sie inständig darum, sich doch ein eigens Bild von dem als Eulen-Baum bezeichneten Baum zu machen oder zu hoffen, dass die EU ein Wanderprojekt auch in ihre Region finanziert, so dass die nächste Geschichte unmittelbar an eine Ihrer Kindheitserinnerungen anknüpfen kann. Es können auch direkt Anträge an die EU gestellt werden, die Adresse füge ich unten an*.

Das Mädchen schlüpfte nun behänd in dieses Loch hinein. Hätte es jemand beobachtet, was nicht der Fall war, also nur für den Fall, dass – dieser Beobachter hätte den Anschein, dass das Mädchen dies nicht zum ersten Mal tat, ganz im Gegenteil, er würde annehmen, dass das Kind hier öfter in den Baum einstieg. Und er würde mit dieser Einschätzung vollkommen richtig liegen. Geschlossen hätte er das vermutlich aus der routinierten und unaufgeregten Art, mit der das Mädchen zunächst auf einen der Findlinge neben dem Baum kletterte, von da ohne Aufzublicken mit der rechten Hand einen der Äste und mit der linken den Rand des Lochs griff, sich mit dem Fuß vom Stein abstieß und schließlich geschmeidig im Baum verschwand.

Dieser fiktive Beobachter wird keine weitere Rolle mehr spielen, er kann von der gewogenen Leserschaft also getrost wieder vergessen werden. Er wurde an dieser Stelle nur eingefügt, um das alte Wort „behänd“ zu beleuchten. Da das Alter der LeserInnen dieses Blocks bisher nicht analysiert wurde (ein Antrag dazu läuft bereits) liegen dementsprechend keine Angaben zum gängigen Wortschatz vor. Sollte diese Information dazu geführt haben, Sie aus dem Lesefluss herausgerissen zu haben, bitte ich um Entschuldigung und verspreche, mich ab sofort zurückzuhalten.

Das Mädchen fand sich augenblicklich in der wundersamen Welt unter dem Baum wieder. Es war seine Welt. Hier gab es unendlich viele Zimmer. Alle hatten hölzerne, zu Bögen geschwungene Wände und schienen gleichzeitig groß und klein zu sein. Wie ungleich geschliffene Steine einer Halskette reihten sich die Kammern, Gemächer und Stuben aneinander – schritt das Mädchen in einen Raum mit hohen Decken, gelangte es von dort augenscheinlich in einen anderen mit sehr niedrigen. Und ging es im nächsten nach oben, führte der folgende es umso tiefer wieder hinab. In allen Winkeln schienen Kojen, Hochbetten oder mit unzähligen Polstern bestückte Lager das Mädchen zum Verweilen einzuladen. Und bette es sich hier unter einen Baldachin, so erblickte es dort die nächste verlockende Nische. Und gerade als es sich in dieser gemütlich machte und ein wenig träumte, sah es weiter hinten einen großen Korb, der frei, wie ein von unsichtbaren Seilen getragener Kokon hin und her schwang. Und als es sich in diesem wiegte, entdeckte es ganz nah bei sich einen weiteren Unterschlupf, heimelig und geborgen… … … Und so legte sich das Mädchen hier ein bisschen ab, ruhte dort ein wenig aus und ließ es sich gut ergehen. So ging das eine ganze Weile oder zwei … bis es sich plötzlich wieder im ersten der vielen wundersamen Zimmerchen wiederfand, da, wo es hergekommen war. Nur dass ihm da jetzt eine riesige ovale Öffnung gewahr wurde, die es vorher nicht gesehen hatte. Aus starken gleichmäßigen Wurzeln mutete sie an wie ein futuristisches Bullauge. Und dahinter war es hell, sehr hell. Und als es näher heranging um zu schauen, tat sich nichts Geringeres als das Meer vor ihm auf. Das Mädchen stand und staunte. Blinzelte in die Sonne, genoss den Schatten, den die Wurzeln von oben auf es warfen und erfreute sich am leichten Hauch des Windes. Es lauschte dem lautlosen Liegen des Wassers, dem Klang der Weite. Zu Hause.

Sie erwarten zurecht, dass ich mich noch einmal mit ihnen in Verbindung setze, da eine ungeschriebene Norm vorzuschreiben scheint, dass einer zweimaligen Unterbrechung eine dritte zu folgen hat, damit das Gefühl entstehen kann, eine Sache sei „rund“ und abgeschlossen. Da ich prinzipiell die von der EU festgelegten Normen befürworte und Sie zudem auch nicht enttäuschen möchte, tue ich das hiermit. Allerdings sei erwähnt, dass das nur der Form halber geschieht, Inhaltlich gibt es von meiner Seite nichts hinzufügen außer dem Ende (und natürlichem einem Dank für Ihre Aufmerksamkeit)

Das Mädchen atmete tief ein, reckte und streckte sich, nahm den Campingbeutel, den es am Eingang des Baums abgelegt hatte, kletterte wieder aus dem Stamm hinaus und machte sich auf den Heimweg. Stieg den Berg hinauf, schlüpfte in die Tür hinein und nahm die sechs Treppen nach oben. Dort hängte es die blaue Cordjacke an seinen Haken zurück, packte das Brot aus, schnitt eine dicke und eine dünne Scheibe davon ab, schmierte Butter darauf und rief zur Mutter „Abendbrot!“

Ramona Krönke

Walk1 Brunschko/Krönke May 14th – May 23rd in Brandenburg / Germany

*Europäische Union, Rue Jaques de Lalaing 8-14, 10 40 Brüssel

 

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